Was macht das Betreute Wohnen in Gastfamilien (BWF)?
Zuhause fühlt Phillipp Kuntscher sich wohl. Der 30-Jährige wohnt in einem schmucken Einfamilienhaus in Nordkirchen, einer Gemeinde im Kreis Coesfeld. Gerne sitzt er in seinem Zimmer, das mit allerhand Fotos und dem grün-schwarzen Schal seines Lieblingsvereins Preußen Münster geschmückt ist. Wenn der junge Mann Lust auf Gesellschaft hat, geht er in die Küche. Hier trifft er auf seine Gasteltern, Otto und Jutta Hövener, zu denen er vor 10 Jahren gezogen ist. Phillipp Kuntscher hat eine kognitive Beeinträchtigung und braucht aufgrund seines Assistenzbedarfs Unterstützung im Alltag. Die Möglichkeit, als dauerhafter Gast in einer Familie zu wohnen, war für ihn genau das Richtige. Denn Phillipp Kuntscher liebt es, Zeit mit seinen Gasteltern zu verbringen und mit ihnen Ausflüge zu übernehmen. Immer wieder schwärmt er von den gemeinsamen Urlauben wie zum Beispiel in der Türkei, in die er schon mehrfach mit seiner Gastmutter gereist ist.
„Betreutes Wohnen in Gastfamilien“ (BWF) heißt die Unterstützungsleistung, die das Sozialwerk St. Georg seit 2005 vor allem im Kreis Soest, im Kreis Coesfeld, in Hamm und in den angrenzenden Orten anbietet. Diese gibt Menschen, die normalerweise in einer besonderen Wohnform oder im Ambulant Betreuten Wohnen leben würden, die Möglichkeit, Teil einer Familie zu werden. „Das Besondere an diesem Angebot ist, dass Menschen in einem Rahmen leben, in dem Teilhabe und Inklusion recht einfach gelingen kann“, betont Diplom-Pädagogin Kerstin Schwarte, die die Phillipp Kuntscheres Gastfamilie seit mehr als 9 Jahren als pädagogische Fachkraft begleitet. „Innerhalb der Familie entstehen Beziehungen, durch die der oder die Einzelne selbstverständlich auch mit anderen Menschen aus dem Umfeld der Familie in Kontakt kommt.“ Oft würden die Familien ihre Gäste auch mit in ihre Hobbys einbinden, so dass die Klientinnen und Klienten in dem neuen Ort schnell Anschluss finden könnten.
Neben der sozialen Teilhabe unterstützen die Familien die Menschen aber auch dabei, ein möglichst selbstbestimmtes und eigenständiges Leben zu führen. Wie das im Alltag konkret aussehen kann, muss jede Familie gemeinsam mit ihrem Mitbewohner oder ihrer Mitbewohnerin und dem BWF-Team des Sozialwerks aushandeln. „Alltagsgestaltung, Bedürfnisse und Erwartungen können recht unterschiedlich sein“, berichtet Kerstin Schwarte. „Daher braucht es eine Zeit, bis sich alle aufeinander eingestellt haben. Zudem ist es wichtig, dass alle Beteiligten miteinander Vereinbarungen treffen, die dann eingehalten werden.“
Wenn es Schwierigkeiten gibt, ist es der Job des BWF-Teams zu vermitteln, den Gasteltern ggf. Fachwissen zu vermitteln und zum Beispiel zu erklären, was es bedeutet, wenn der Klient oder die Klientin gerade in einer depressiven Phase steckt. „Den Familien muss von Anfang an klar sein, dass es auch schwierige Zeiten geben kann“, so Schwarte. „Viele sind zu Anfang sehr motiviert und der Meinung, dass sie Menschen mit einer psychischen Erkrankung durch das gute Umfeld, das sie bieten, heilen können.“
Eine Erwartung, die mit der Wirklichkeit oft nicht vereinbar ist. Dementsprechend gehört es zu den Aufgaben des BWF-Teams, potenziellen Gasteltern ein möglichst realistisches Bild davon zu vermitteln, wie es ist, einen Dauergast bei sich aufzunehmen. Darüber hinaus ist es wichtig, dass Familie und Klient, bzw. Klientin zueinander passen. „Die Entscheidung, Gastfamilie zu werden hat große Auswirkungen auf das Privatleben – das ist eine weitere Besonderheit gegenüber einem professionellen Setting, bei dem die Mitarbeitenden nach Dienstschluss nach Hause gehen können“, so Schwarte. „Auf der anderen Seite können in den Gastfamilien sehr persönliche und enge Bindungen entstehen, von denen Menschen mit Assistenzbedarf sehr profitieren können.“
Dies gilt auch für Phillip Kuntsche. Der 30-Jährige, der tagsüber in den Caritaswerkstätten in Nordkirchen arbeitet, ist glücklich, dass er auf seine Gastfamilie zählen und mit ihnen auch die Feiertage wie Weihnachten, Ostern oder seinen Geburtstag verbringen kann. Als Erwachsener übernimmt er im Haushalt selbstverständlich verschiedene hauswirtschaftliche Aufgaben, wie zum Beispiel Spülmaschine ausräumen, saugen, oder den Tisch decken. Und auch Jutta und Otto Hövener sind froh, dass sie sich vor 10 Jahren für den jungen Mann entschieden haben.
Trotz der Vorteile, die das Leben in Gastfamilien für Menschen mit Assistenzbedarf bieten kann, ist das Angebot noch nicht sehr verbreitet. Das Sozialwerk, das diese Form der Unterstützung seit 2005 anbietet, begleitet aktuell rund 45 Menschen, die in Gastfamilien ein neues Zuhause gefunden haben. „Natürlich würden wir diese Zahl gerne noch erhöhen“, betont Schwarte. „Allerdings wird es immer schwieriger, Familien zu finden, die für diese Aufgabe in Frage kommen.“ Denn es gebe einige Voraussetzungen, wie zum Beispiel, dass genügend Wohnraum zur Verfügung stehe. Zudem seien heute in den meisten Familien beide Erwachsene berufstätig und mit ihrem eigenen Alltag schon sehr beschäftigt. Aber auch die aktuellen Krisen wie zum Beispiel der Ukraine-Krieg erschweren es dem BWF-Team, Menschen zu finden, die bereit sind, Erwachsene mit Assistenzbedarf in ihre Familie zu holen. „Viele Familien, die in Frage kommen, haben derzeit Flüchtlinge bei sich aufgenommen“, so die Diplom-Pädagogin. „Andere wiederum trauen es sich zunächst nicht zu, die Verantwortung für einen Menschen mit einer Behinderung zu übernehmen.“ In diesem Zusammenhang ist es Schwarte wichtig zu betonen, dass die Familien nicht allein gelassen, sondern durch das Team intensiv betreut und unterstützt werden. Richtig ist auch, dass nicht nur der Mensch mit Assistenzbedarf von dem Familienleben profitiert, sondern dass in den meisten Fällen auch er für die Gastfamilie eine große Bereicherung darstellt.